So werden chaotische Teams gut

Zu den Glanzleistungen einer Führungskraft gehört es, ein chaotisches Team in eine tragfähige Gruppe zu verwandeln. Das gelingt, wenn sie ihren Führungsstil an die unterschiedlichen Phasen der Gruppenentwicklung anpasst.

Vor einigen Monaten traf ich auf einem Kongress Dr. Meier, den frischgebackenen Chefarzt einer Klinik für geriatrische Rehabilitation. Wir organisierten uns eine Tasse Kaffee und ich fragte ihn, wie es ihm geht. „Oh, Frau Schuster, seitdem ich Chefarzt bin, stehe ich neben mir. Ich habe ein Team übernommen, in dem Chaos herrscht. Jeder macht, was er will. Ich versuche verzweifelt, da Ordnung hinein zu bekommen. Wenn das so weitergeht, höre ich wieder auf. Wahrscheinlich bin ich nicht zum Chefarzt geboren.“

Ich kannte den jungen Mann schon lange und wusste, dass er alles hatte, was es braucht, um ein großartiger Chefarzt zu werden. Wir verabredeten uns zum Abendessen und schauten uns die Sache genauer an. Nachdem wir uns auf der Karte des Restaurants etwas Gutes ausgesucht hatten, fragte ich ihn: „Sagen Sie mal, in welcher Phase befinden sich denn ihre jeweiligen Teams?“ Dr. Meier sah mich an und zuckte mit den Schultern.

Vier Phasen der Gruppenentwicklung

Alle Teams durchlaufen vier Phasen der Gruppenentwicklung:

  • P 1 „Forming“-Phase: Eine Phase ausgeprägter Unsicherheit und möglicherweise Angst. Die Teammitglieder fragen sich, wo der eigene Platz in diesem Team sein wird, wie die Regeln sind und ob am Ende alles gut gehen wird.
  • P 2 „Storming“-Phase: Der Name ist Programm, eine Phase auch harter Auseinandersetzungen. Es geht um Macht und Einfluss. Mitarbeiter können sich wie die Furien benehmen.
  • P 3 „Norming“-Phase: Es wird ruhiger, das Eis ist gebrochen. Es entsteht Sicherheit, Vertrauen und Offenheit.
  • P 4 „Performing“-Phase: Nun ist das Team ein gutes Team. Die persönlichen Bedürfnisse der Teammitglieder und der Gruppe sind in Balance. Es läuft.

Wir verorteten in einem ersten Schritt die Teams, für die Dr. Meier zuständig war, in den beschriebenen Phasen. „Na ja, mein Oberarztteam und ich sind zum Glück in Stufe 4, das läuft gut“, sagte er. „Das Team der Assistenzärzte hängt in Stufe 2, dort herrscht völliges Chaos. Die Pflegeteams sind recht unterschiedlich. Das Pflegeteam der Station 1 hängt seit Monaten in Stufe 2. Das Team auf Station 2 läuft ganz gut. Die Stationsleitung macht ihre Sache gut. Ich denke, die sind in der Phase 3.“

Unterschiedliche Führungsstile

Teams in den unterschiedlichen Phasen der Gruppenentwicklung setzen Führungskräfte vor völlig unterschiedliche Anforderungen. Dabei kann man das Verhalten als Führungskraft einteilen in dirigierendes, vorgebendes Verhalten und sekundierendes, helfendes Verhalten.

  • Phase 1: Diese Teams brauchen klare, entspannte Ansagen und deutliche Vorgaben. Was genau soll wie und womit bis wann erledigt werden? Es gilt, Rahmenbedingungen zu schaffen, Abläufe vorzugeben und Strukturen zu setzen.
  • Phase 2: Jetzt haben Chefs alle Hände voll zu tun. Es gilt, die klaren Vorgaben auch durchzusetzen. Vermutlich wird die Gruppe versuchen, die Fähigkeit der Führungskraft infrage zu stellen. Es geht darum zu zeigen, dass man in der Lage ist, das Team zu führen. Manche Führungskräfte sind sich über ihre Bedeutung in dieser Phase nicht im Klaren. Dann ist ein dauernder Kampf um alles die Folge. Das kostet Zeit, Nerven, Geld, Sicherheit, Kreativität und Wohlbefinden auf allen Ebenen. Mittelfristig wird das Team möglicherweise auseinanderfallen.
  • Phase 3: Wenn Teams in der Phase 2 gut und wirksam geführt werden, endet die schwierige Zeit. Es entwickeln sich Routinen, das Team entwickelt eine Eigensprache. Die Kämpfe kommen zur Ruhe. Jetzt ist es Aufgabe der Führungskraft, die schwächeren Mitglieder des Teams zu stärken und ihnen zu helfen, einen guten Platz in der Gruppe zu finden.
  • Phase 4: Es folgt die Phase der Gruppenentwicklung, in der sich Führungskräfte zurücknehmen und Energie tanken können. Das Team organisiert sich und funktioniert. Kreativität und die Entwicklung eigener Lösungen sind möglich. Konflikte werden konstruktiv gelöst. Nun ist es wichtig, dass Chefs ihren Teams nicht durch wildes Führen im Weg stehen.

Systematisches Aufräumen der Teams

In den nächsten Monaten räumte Dr. Meier seine Teams systematisch auf. Er begann damit, sein Team der Oberärzte in der Idee der phasenangepassten Führung zu schulen. Es entstand eine lebhafte Diskussion, wie sie die neuen Erkenntnisse dazu nutzen könnten, die Situation in den Griff zu bekommen. In der Folgezeit trafen sich die leitenden Mitarbeiter aller Abteilungen einmal pro Woche. Sie besprachen die Situation der jeweiligen Teams und glichen sie immer wieder mit dem Entwicklungsstand ab. Sie besprachen für jedes Team konkrete Maßnahmen, die der jeweilige leitende Mitarbeiter in der Folgezeit umsetzte. So gelang es, in sechs Monaten Ruhe in die Teams zu bringen.

Nachdem die ersten Erfolge erzielt waren, traf ich Dr. Meier wieder. „Soweit läuft’s ganz gut“, sagte er. „Doch habe ich das Problem, dass sich zwei Mitarbeiterinnen in der Pflege völlig danebenbenehmen. Die beiden behandeln unsere Azubis, als ob sie der letzte Dreck wären. Fachlich sind die beiden top, aber menschlich geht’s gar nicht. Was mache ich denn mit denen?“

Nagelprobe für Führungskräfte

Eine solche Situation ist beim Aufbau von Teams normal. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter eine faire Chance bekommen, ihr Verhalten zu ändern. Wenn sich nichts bessert, hilft nur eine Trennung. In den folgenden Wochen wurden die Mitarbeiterinnen engmaschig begleitet. Als sich ihr Verhalten auch nach der zweiten Abmahnung nicht besserte, bestellte die Stationsleitung beide in ihr Büro und kündigte das Arbeitsverhältnis. Daraufhin informierte sie das Team darüber, dass die Mitarbeiterinnen das Haus verlassen hätten, weil sie mit den Azubis schlecht umgegangen seien. „Uns ist es wichtig“, sagte sie, „dass wir mit allen Kollegen, auch mit unseren Nachwuchskräften, anständig umgehen.“

Etwa ein Jahr nach unserem ersten Treffen sah ich Dr. Meier beim Fahrradfahren. Über die Lenker hinweg fragte ich ihn, wie es denn laufe. „Jetzt läuft’s richtig gut“, meinte er. „Und ich habe endlich wieder Zeit, mich um meine Gesundheit zu kümmern.“

Erstmals veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt I Heft 50 I 15. Dezember 2017

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