Welches Problem wollen Sie?

Schnelles Wachstum oder Business Exzellenz? Viele Mitarbeiter oder richtig gute? Viele Führungskräfte entscheiden sich im Alltag, beides zu wollen. Das geht üblicherweise schief.

Vor wenigen Jahren traf ich den Ärztlichen Direktor eines kleineren Klinikums in einer ländlichen Region. Er war mir aus verschiedenen Projekten bekannt, sein Temperament war legendär. Besorgt setzte er sich mir gegenüber und legte mir seine Situation dar.

„Wir haben gerade ein echtes Problem“

„Also Frau Schuster, wir haben ja gerade unsere neue Geriatrie aufgemacht und leider geht es da drunter und drüber. Leiter ist der neue Chefarzt, Dr. Müller. Wir haben ihn vor vier Monaten von der Konkurrenz abgeworben. Als er kam, hatte er klare Vorstellungen, was er finanziell und organisatorisch wollte und wir haben es ihm zugesagt. Dafür hat er versprochen, in wenigen Monaten für Vollbelegung in unserer geriatrischen Abteilung zu sorgen. Nun läuft die Abteilung seit vier Monaten. Am Anfang war das Team sehr motiviert. Wir haben einige Mitarbeiter aus dem Stammhaus in die neue Abteilung versetzt. Dann kamen neue Mitarbeiter dazu, weil wir bis zur Vollbelegung noch eine ganze Reihe neuer Pflegekräfte, zwei neue Ärzte und etliche Therapeuten brauchten. Seither herrscht das Chaos. Dr. Müller reist durchs Land und macht sehr erfolgreich Werbung für unser Haus. Das ist schön und gut, doch leider kommen wir intern nicht nach. Die angestammten Mitarbeiter haben keine Zeit, sich um die Einarbeitung der neuen zu kümmern. Von den sechs Pflegekräften, die wir vor acht Wochen eingestellt haben, verlassen uns vier wieder zum nächsten Monat. Die Abläufe sind nicht stabil, unsere erfahrenen Mitarbeiter sind genervt und so langsam hören wir, dass sich die Pflegekräfte in der Region erzählen, dass bei uns nicht alles Gold sei, was glänzt. Dabei müssen wir unsere Betten rasch füllen, um unsere Finanzierung stabil zu halten. Ich schlafe schon ganz schlecht.“

Müde rieb er sich mit der Hand über die Stirn. „Und jetzt brauchen wir Sie“, sagte er. „Sie sollen uns helfen, zügig zu wachsen. Außerdem möchten wir gleich von Anfang an einen neuen Qualitätsstandard in der Geriatrie setzen. Mittelmaß kann ja jeder. Das habe ich übrigens auch den Investoren zugesagt und ich halte mein Wort.“ Er lächelte mich entspannt an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Schnelles Wachstum oder Business Exzellenz?

Ich lehnte mich ebenfalls zurück, schaute ihn an und sagte: „Tut mir leid, das wird nicht gehen. Schnelles Wachstum und Business Exzellenz lassen sich nicht gleichzeitig realisieren. Was möchten Sie wirklich? Schnell wachsen oder von Anfang an hervorragend arbeiten?“ Er sprang aus dem Stuhl auf und lief aufgeregt durchs Zimmer. „Nun fragen Sie nicht so, beides natürlich, andere schaffen das doch auch“, rief er. Ich fragte ihn „O. k., wer? Welche Klinik oder Abteilung kennen Sie, die es geschafft hat, schnell zu wachsen und gleichzeitig exzellente Qualitätsstandards umzusetzen? Ohne zu tricksen, meine ich.“ Verblüfft entgegnete er: „Naja, da wird es schon jemanden geben!“

Meine Antwort war unbequem. Ich erklärte ihm, dass schnelles Wachstum und Exzellenz in der Arbeit zur gleichen Zeit eine gegenläufige Abhängigkeit ist, ein sogenanntes „Trade-Off“. Beides geht nicht gleichzeitig. Wer darauf besteht, beide Prioritäten umzusetzen, wird im besten Fall im Mittelmaß hängenbleiben, erläuterte ich. Nun, die Unterredung war daraufhin für dieses Mal beendet.

Phänomen der gegenläufigen Abhängigkeiten

Gegenläufige Abhängigkeiten sind ein gängiges strategisches Phänomen im Alltag von Führungskräften. Einige Beispiele:

  • Will eine Führungskraft Mitarbeiter durch Führung stark machen oder die Patienten doch lieber selbst behandeln, weil sie dann sicher ist, dass alles gut geht?
  • Wird eine Führungskraft den schlechten Mitarbeiter behalten, um dann das zusätzliche Bett betreiben können oder ist es wichtig, richtig gute Mitarbeiter zu haben?
  • Möchte eine Führungskraft sich durchsetzen oder will sie den Frieden wahren? Die Liste lässt sich beliebig verlängern.
  • Im Umgang mit Trade-Offs hilft die einfache Frage: Welches Problem will die Führungskraft haben? Am Beispiel von oben:
  • Unselbstständige Mitarbeiter oder das vorübergehende Risiko, dass ein Mitarbeiter einen Fehler macht?
  • Schlechte Mitarbeiter oder zu Beginn höheren Investitionsbedarf durch langsameres Wachstum?
  • Den Konflikt mit der dann folgenden Veränderung oder die aktuelle Situation?

Trade-Offs geben die Chance, die Dinge abzuwägen und dann zu entscheiden, welcher Weg zu dem gewünschten Ergebnis führt. Führungskräfte, die im Falle von Trade-Offs den Weg gehen, beide sich stellenden Varianten gleichzeitig realisieren zu wollen fixieren sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Mittelmaß – oder kämpfen lange an vielen Fronten, um irgendwann müde aufzugeben. Trade-Offs kann man nicht auflösen, sondern nur in der jeweils aktuellen Situation klar entscheiden.

Neuer Start mit klaren Prioritäten

Sechs Monate später meldete sich der Ärztliche Direktor erneut und bat um ein Gespräch. „O. k,, ich schätze, Sie hatten Recht mit dieser Trade-Off-Sache“, gab er zu. „Wir sind weiter in Schwierigkeiten gestolpert, haben zwei Patientenschäden anhängig und Dr. Müller wird uns zum Jahresende auf eigenen Wunsch verlassen. Was machen wir jetzt?“

Den nächsten Termin hatten wir zusammen mit dem Nachfolger von Dr. Müller, der in einer erdenklich schlechten Lage startete: Die Abteilung hatte finanziell Schräglage, das Team war in schlechtem Zustand und der Vorstand nervös. In etlichen Sitzungen entwickelte das Leitungsteam eine Strategie, um das Haus zu retten. Ein neuer Businessplan legte den Schwerpunkt auf langsames, solides Wachstum. Das Team fand eine neue Bank, die diesen Weg mittrug. Über drei Jahre hinweg entstand eine stabile Abteilung, die inzwischen zum wirtschaftlichen Erfolg der Klinik beiträgt. Ihr Ruf ist exzellent, was sich durch steigende Patientenzahlen und eine stabile Zahl an Freibewerbungen pro Monat bemerkbar macht.

Vor einiger Zeit durfte ich den Chefarzt während einer Sitzung mit der Klinikleitung erleben. „Wir sind mit unserem Patientenaufkommen am oberen Ende dessen angelangt, was wir in den aktuellen Räumen leisten können“, sagte er. „Ein wenig können wir noch erreichen, indem wir unsere Abläufe verbessern. So richtig viel wird das jedoch nicht mehr bringen. Entweder wir stabilisieren uns in der jetzigen Größe, was keine schlechte Option ist, oder wir erweitern die Räume. Welches Problem wollen wir haben?“

Erstmals veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt I Heft 50 I 15. Dezember 2017

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