Lieber Lösungen finden

Zwischenfälle werden noch größer, wenn sich das Führungsteam darauf beschränkt, den Schuldigen zu suchen. Besser ist es, den „Schatz“ in der Katastrophe zu bergen und daraus Verbesserungen abzuleiten.

Vor etlichen Jahren traf ich den Chefarzt einer internistischen Abteilung. „Im Alltag stoße ich immer wieder auf Dinge, bei denen ich mir an den Kopf fassen muss“, berichtete er. „Auf Station 3 haben wir gestern bei einem schwer erkrankten, leicht dementen älteren Herrn einen Dekubitus gefunden. Dieser schaut klar danach aus, als sei er nicht gerade eben entstanden. Leider hat ihn bisher weder jemand dokumentiert noch finden sich Hinweise, dass jemand etwas dagegen unternommen hat. In der Dokumentation finden sich Vorgaben zu Lagerungsintervallen. Doch ich wette, dass diese nicht umgesetzt wurden. Was machen wir denn jetzt?“

Wir beschlossen, den Zwischenfall anhand des sogenannten London-Protokolls zu analysieren. Das ist ein pragmatischer Leitfaden, der hilft, kritische Zwischenfälle nachhaltig zu analysieren und daraus wirksame Maßnahmen abzuleiten.

Schritt 1: Entscheidung für die Schadensanalyse

Mein Kunde informierte die Klinikleitung und legte dar, dass er den Vorgang anhand einer systematischen Schadensanalyse klären wolle. Um dies zu ermöglichen, durften wir drei Mitarbeiter für 2,5 Tage von der Arbeit an den Patienten abziehen. Zudem konnten wir die Bibliothek in dieser Zeit nutzen. Am Nachmittag des dritten Tages sollten wir die Ergebnisse dem Leitungsteam vorstellen.

Schritt 2: Zusammenstellen des Analyseteams

Bei der Auswahl der Teammitglieder achteten wir darauf, Mitarbeiter zu wählen, die vermutlich nicht am Geschehen beteiligt waren und möglichst viel klinische Erfahrung mitbrachten. Die Wahl fiel auf die Stationsleitung, eine Krankenschwester der Station 1 und einen Oberarzt aus Station 2. Zu Beginn besprachen wir die Grundlagen unserer Zusammenarbeit. Wichtig war uns, dass sich das Analyseteam absolut an die Schweigepflicht hält. In solchen Fällen ist zudem eine Grundhaltung nötig, die sich am besten mit dem „Demut“ beschreiben lässt: „Wir gehen bitte alle davon aus, dass alles, was wir finden, auch uns genauso hätte passieren können. Wir verzichten bitte auf Überheblichkeit und Verurteilung anderer. Unsere Aufgabe ist es zusammenzutragen, was war, und genau das werden wir tun.“ In diesem Moment zeigte sich, dass wir die richtigen Mitarbeiter gewählt hatten. Sie lächelten und meinten: „Prima!“

Schritt 3: Die systematische Datensammlung

In den folgenden Stunden sammelten wir alle Daten, die mit dem Zwischenfall zusammenhingen. Wir analysierten die Pflegedokumentation, die medizinischen Unterlagen und alle weiteren Dokumente, die zum Thema passten. Dazu gehörten die Unterlagen des QM-Systems, Formulare, Dienstanweisungen, Dienstpläne, Schulungsunterlagen der Mitarbeiter. Mit Moderationskärtchen erstellen wir einen Zeitstrahl, der vom Entdecken des Dekubitus in die Vergangenheit führte. Dort vermerkten wir zum Beispiel, wer was gemacht hatte und welche Dokumente entstanden.

Im nächsten Schritt führten wir Interviews mit den Mitarbeitenden, die an dem Vorgang beteiligt waren. Wir verzichteten auf Vorwürfe und sprachen in einer freundlichen und ruhigen Atmosphäre. Ziel war es, weitere Klarheit über die Geschehnisse zu erhalten. Da die Tochter des betroffenen Patienten durch die Vorgänge nicht allzu belastet war, banden wir auch sie neben den Mitarbeitenden ein. Wir ordneten die Hinweise aus den Interviews dem zeitlichen Verlauf zu. Um den Überblick zu behalten, nummerierten wir alle Unterlagen und stellten sie in einem Inventarverzeichnis zusammen. Damit waren wir am Nachmittag des zweiten Tages fertig. Die letzten Vermerke in unserer Chronologie lagen mehr als ein Jahr zurück und bezogen sich auf den gelegentlich kreativen Umgang des damaligen Führungsteams mit Regelungen, QM und Werten, die einige Mitarbeiter noch bis zum Analysetag prägten.

Uns allen hatte die Arbeit Spaß gemacht. Schwester Sabine aus Station 1 sprach für alle, als sie meinte: „Junge, Junge, ich schätze, da ist noch viel zu tun. Das ist das erste Mal, dass ich so klar sehe, was dazu gehört, damit so ein Zwischenfall zustande kommt. Um wieviel zu kurz wären wir gesprungen, wenn wir nur mit dem Pflegepersonal rumgemeckert hätten.“

Schritt 4: Suche nach fehlerhaften Vorgängen

Jetzt machten wir uns daran, die fehlerhaften Vorgänge und die Faktoren, die diese möglich gemacht hatten, zu identifizieren. Am frühen Vormittag des dritten Tages waren wir fertig. Wir kamen auf knapp 100 fehlerhafte Vorgänge und Faktoren, die diese Fehler begünstigt hatten. Auf der Liste standen zum Beispiel Fehler in der Durchführung und im Timing der Pflegevisiten, unterschiedliche Interpretationen darüber, wie konsequent die vorgegebenen Lagerungsintervalle einzuhalten sind, veraltete QM-Dokumente, Unklarheiten, ab wann genau ein Wundprotokoll anzufertigen ist, Schwierigkeiten des Teams im kommunikativen Umgang mit Demenzpatienten und so weiter. Hinzu kam, dass der neue Chefarzt andere Anforderungen an das Einhalten und die Klarheit von Regeln hatte als der alte, wobei ein Teil des Teams noch mit den bis vor Kurzem gelebten Wertesystem des alten Chefarztes lebte und mit der neuen Situation haderte.

Schritt 5: Erarbeiten eines Maßnahmenkatalogs

Die letzten Stunden nutzten wir, um einen Maßnahmenkatalog zu erstellen und diesen zu priorisieren. Wir schlugen vor, einige Dinge, wie die Überarbeitung der Arbeitsanweisungen zur Wunddokumentation, an die zuständigen Mitarbeiter im Hause zu delegieren.

Schritt 6: Präsentation im Leitungsteam

Schließlich stieß das Leitungsteam, vertreten durch den Chefarzt, die Pflegedienstleitung und den Verwaltungsleiter, zu uns. Wir nahmen uns vier Stunden Zeit, um die Ergebnisse durchzugehen, unsere vorgeschlagenen Maßnahmen zu besprechen, die Priorisierung zu ergänzen und den Maßnahmenkatalog fertigzustellen. Wir legten fest, wer sich worum kümmert und wie und worüber das Team informiert werden sollte. Wir beauftragten die Teammitglieder der Arbeitsgruppe, die Maßnahmen zu begleiten und für deren Umsetzung zu sorgen.

Ein Jahr später saß ich wieder im Büro des Chefarztes. „Diese Analyse hat die vermutlich größte Verbesserungsaktion in der Abteilung nach sich gezogen“, freute er sich. „Und das Gute ist, jetzt läuft’s. Was hätten wir an Chancen verschenkt, wenn wir wie üblich nur den Schuldigen gesucht hätten!“

Erstmals veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt I Heft 50 I 15. Dezember 2017

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