„Nicht schlecht“ reicht nicht

Spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar: Das Gesundheitswesen ist noch nicht sicher genug. Viele Qualitäts- und Risikomanagementsysteme leisten lange nicht, was sie könnten.

Vor wenigen Monaten saß ich neben dem Pflegedienstleiter einer Einrichtung. Corona beherrschte die Nachrichten, es waren keine Schutzkittel mehr zu bekommen. „Wir bekommen nichts“, sagte er verzweifelt. Aus dem Nachbarzimmer kam eine Kollegin herein, die das Ganze mitbekommen hatte. „Also dann Plan B. Was tun wir?“ „Wir müssen anders denken“, antwortete der Pflegedienstleiter. „Was hältst Du von Regenmänteln?“, fragte die Kollegin. Der Pflegedienstleiter machte sich auf die Suche. Er kam auf Anglerkleidung. Langärmelige Mäntel für Angler, günstig zu haben im Internet. Die Frage der Desinfektion ließ sich über eine befreundete Chemikerin lösen: „Taucht die Dinger in das Desinfektionsmittel für eure Badewanne und lasst sie trocknen. Dann könnte ihr sie am nächsten Morgen wiederverwenden.“

Gefährliche Langeweile mittelguter QM-Systeme

Wenige Wochen später: Vor mir lag die QM-Dokumentation einer Praxis, die Pandemiezahlen waren rückläufig. Der Blick in das QM-Handbuch zeigte: Viel Text, wenig Inhalt. Das letzte Mal aktualisiert im Jahr 2002. Wie so oft hatte eine externe Firma das Handbuch erstellt, das so inhaltsleer war, dass es keinen Grund gab, irgendetwas zu aktualisieren. Die Inhalte bildeten die Anforderungen der DIN EN ISO 9001:2015 ab. Und ja, ich empfahl, die Zertifizierung bei der Zertifizierungsstelle aufrechtzuerhalten, weil nichts anderes zur Option stand. Das QM-System erfüllte die Anforderungen. Es war nicht schlecht, aber richtig gut war es eben auch nicht. Wie immer schlug ich dem Leitungsteam der Praxis vor, das Handbuch zu verschlanken und überflüssige Passagen herauszunehmen. Der Geschäftsführer sagte: „Ach Frau Schuster, Sie haben ja Recht. Aber erst mal ist es ja nicht schlecht. Und das reicht uns.“

Nun kann man sich trefflich darüber streiten, ob ein langweiliges, inhaltsleeres QM-Handbuch ein Problem ist. Zunächst einmal produziert es keinen unmittelbaren Schaden. Scheinbar können viele Organisationen mit schlechten QM-Handbüchern recht gut leben. Ein Problem ist jedoch die Summe lauwarmer QM-Systeme, die QM-Berater gelegentlich erstellen, die den Folgen ihrer Arbeit nie selbst ausgesetzt waren, weil sie selbst keine Unternehmen führen. Ein weiteres Problem ist die Summe der Auditoren, die die lauwarmen QM-Systeme jedes Jahr wieder in die Hand nehmen und zertifizieren. Ein größeres Problem ist, dass überbordende QM-Systeme ein Sekundärrisiko sind, weil sie talentierte Menschen glauben lassen, dass Qualitätsmanagement nicht hilfreich ist.

Ein gutes, lebendiges QM-System ist ein Segen für jedes Unternehmen. Und genau da liegt das vielleicht allergrößte Problem der lauwarmen QM-Systeme: Sie nutzen die Verbesserungspower nicht, die gute QM-Systeme haben. Chancen werden verschenkt, und das in großem Stil. „Nicht schlecht“ reicht einfach nicht. Bequemlichkeit gibt die Illusion, auf exzellente Arbeit verzichten zu können. Und das ist in letzter Konsequenz brandgefährlich. Spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, dass es Sicherheit nicht gibt – dabei war die Idee einer Pandemie uralt.

Auch Dinge denken, die noch nicht passiert sind

Nur weil die Dinge in der Vergangenheit gut gegangen sind, muss das nicht auch für die Zukunft gelten. Risikoprävention, die auf dem Sammeln von Gefährdungen aus der Vergangenheit fußt, ist besser als nichts, aber nicht ausreichend. Nötig ist, auch die Dinge zu denken, die noch nicht passiert sind, aber passieren können. Natürlich fühlt es sich gut an, die Lagerbestände für Desinfektionsmittel auf ein Minimum zu reduzieren und „on demand“ einzukaufen. Was passiert aber, wenn der Lieferant nicht mehr liefern kann? Was ist, wenn die Dame im Archiv, die sich dort gut auskennt, von heute auf morgen ausfällt? Was passiert, wenn die Serverstruktur in der Klinik für einen Tag ausfällt? Diese Fragen sind unbequem und unersetzlich.

Nachhaltige Risikomanagementsysteme

Eine gute Grundlage für den Aufbau nachhaltiger Risikomanagementsysteme sind die ONR 49000 oder die ISO 31000. Wichtige Faktoren eines tragfähigen Risiko- und Qualitätsmanagements sind:

  • Gute Risikomanager sind unbequem und exzellent in Kommunikation ausgebildet.
  • „Bequemlichkeit“ und „Illusion von Sicherheit“ sind als Risiken benannt und werden auf alle anderen Unternehmensbereiche angewandt.
  • Schlechte Lösungen werden benannt und abgestellt.
  • Das Risikomanagement setzt die Themen, das Qualitätsmanagement sorgt für Verbesserung.
  • „Mittelmäßigkeit“ ist kein akzeptabler Wert im Management, sondern ein eigenes Risiko. Er wird durch den Exzellenz-Gedanken ersetzt.
  • Redundante Systeme werden aufgebaut, die unabhängig voneinander existieren können.
  • Lokale, selbstständige, kleine Lösungen werden gestärkt.
  • Die Bedeutung der Risikoprävention wird durch Informationskampagnen im Gesundheitswesen und der Bevölkerung erfahrbar gemacht.
  • Die Wirksamkeit der Risikokommunikationssysteme wird bewertet. Dies gelingt auf der Basis einer guten Zusammenarbeit zwischen Risikomanagement und Marketing.
  • „Fakten vor Gefühl“ ist Grundlage des Denkens und Handelns. Immer wieder werden Fragen gestellt: Wie gefährlich ist etwas wirklich? Was sind die Fakten? Inwieweit verzerrt unser Gefühl unsere Wahrnehmung? Wie vermeiden wir das?
  • Als Grundlage für die Definition von Risiken wird die Vergangenheit herangezogen. Ergänzend dazu wird dieses Denken als Sekundärrisiko definiert. Auch gegen dieses Risiko werden Präventionsmaßnahmen implementiert. Immer wieder wird die unbequeme Frage gestellt: Was sehen wir nicht und wie gehen wir damit um?

Zusammentragen, was in der Krise hilfreich war

Vor wenigen Tagen saß ich wieder mit dem Team rund um Pflegedienstleiter zusammen, der die Idee mit der Anglerkleidung hatte. Die Sorge um die Zukunft hatte sich allen tief eingeprägt. „Für den Moment sind wir sicher, aber wie machen wir denn nun weiter?“ Schweigen nistete sich im Raum ein. „Wir hatten vieles, was uns durch die Krise getragen hat, zum Beispiel, dass wir uns mögen“, sagte eine Kollegin. Der Pflegedienstleiter schaute auf: „Genau, das war wichtig. Und was noch?“ Aus dieser Frage entstand die Idee, unternehmensweit zusammenzutragen, was in der Krise hilfreich war, um genau diese Dinge für die Zukunft zu stärken. Die Ergebnisse der ersten Abteilung liegen inzwischen vor.

Erstmals veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt I Heft 44 I 1. November 2019

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